2
Aug
2007

Die dunkle Seite der Bürokratie

Hier ist er, der allerhöchstoffozielle Abschlussbericht, der -ich knickse und ziehe meinen Hut- von nun an dazu bestimmt sein wird, im Keller eines ehrenhaften Amtes zu verstauben.

Mein Ferienheim

Wenn sich einer dazu entschliesst, ein Jahr ins Ausland zu gehen, noch dazu nach Russland, dann sollte er bereits davor starke Nerven und überzeugende Erklärungen besitzen. Nachdem man ihn viele Male nötigte, sich zu erklären, muss er sich noch viele weitere Male mehr alberne Metaphern aus der Pflanzenwelt anhören: wachsen wirst du, und reifen, und Früchte tragen.
Rot vor Scham und seine Erklärungen in einer Art Automatismus vor sich hinbetend stolpert er letztendlich aus dem Land und wieder zurück, und sieht sich dann gezwungen, weitere unzählige Male Erlebnisberichte abzulegen.
Dies ist mein erster. Die Welt hält den Atem an und lauscht.

Das FSJ als Idee, ganz unabhängig von meinem Einsatzort, ist einzigartig und großartig, sowohl was den persönlichen Wert als auch die politische Geste angeht. Es ist, was den wenigsten auffällt, sehr viel bewundernswerter und selbstloser vom Staat, der es finanziell unterstützt, als von dem Freiwilligen selbst, der sich mit seinem Dienst ja doch persönliche Wünsche erfüllt, wie z.B. ins Ausland zu gehen, fremde Sprachen zu lernen usw.
Der Staat dagegen gibt Geld für eher abstrakte Zwecke aus, deren Erfüllung bezweifelt werden kann, für die Förderung des sozialen Bewusstseins, des Geschichtsbewusstseins, des Kulturaustausches, für Imagepflege.
Ob ich mich für den Staat gelohnt habe, das weiß weder er, noch ich, aber dass er danach so gar nicht fragt, das macht ihn mir äußerst sympathisch.

Von meiner Einsatzstelle kenne ich wenig mehr als den Namen, „miloserdie“, Barmherzigkeit. Als Organisation machte sich „Miloserdie“ wenig Ehre: über das Jahr hinweg gab es kaum Kontakt, sie schien nur als Adressenvermittler und Urlaubsantragsstempler zu fungieren, intensive Gespräche über Patienten und Arbeit fanden nie statt. Dass die Bindung zur Organisation so lose war, ist bedauerlich, beeinflusste die Arbeitszeit bei den Patienten aber in keiner Weise.

Die Zeit in den Haushalten erlebte ich als fast durchweg positiv. Ich wurde freundlich aufgenommen und spürte schon bald, dass ich ihnen wichtig war. Dennoch lässt sich daran zweifeln, ob wirklich den bedürftigsten Menschen geholfen wird. Viele der Sozialleistungen fallen ohnehin Veteranen des zweiten Weltkrieges und Invaliden einer höheren Klasse (bezeichnet die Schwere der Krankheiten) zu, sie erhalten oft eine Art Zusatzrente, Freikarten und verschiedene andere Vergünstigungen - und dann auch noch mich. Aber wie lebt man wohl in Russland mit der einfachen Rente?
Obwohl ich das Gefühl hatte, in eher wohlhabenden Haushalten zu arbeiten, wollte ich den Arbeitsplatz nicht wechseln, da ich auch hier offenbar helfen konnte und die Beziehung zu den Patienten bald so persönlich wurde, dass es unmöglich schien, sie zu verlassen.
Die Arbeit ergab für mich Sinn, auf persönlicher Ebene, obwohl es sicherlich bedürftigere Haushalte gegeben hätte.

Das Leben in der 20er-WG ist ein karikiertes Miniaturmoskau: viele Menschen in stilloser Umgebung auf kleiner Fläche. Die Konzentration der Freiwilligen hat Vor- und Nachteile. Vorteile vor allem für die Trägerorganisation, die auf diese Weise zentral Rügen und Informationen übermitteln kann. Nachteile vor allem für die Freiwilligen, die die Sprache lernen, ihre Ruhe haben wollen oder Klassenfahrten und die ihnen eigene Atmosphäre von jeher nicht ausstehen konnten.

Um von den Menschen, die so gerne von Reife und Horizonterweiterung sprechen, mit ebensolchen Komplimenten bedacht zu werden, begann ich mir das Fingernägelkauen in diesem Jahr abzugewöhnen. Wenn das kein Zeichen dafür ist, dass ich „geistig gewachsen“ bin, dann weiß ich auch nicht.

21
Jun
2007

Sprachprobleme?

Neulich dachte ich, du hast noch einen guten Monat, es wird Zeit, deinen russischen Sprachkenntnissen einmal tief in die Augen zu schauen und "Erklärt euch!" zu fordern.
Heute zum Beispiel war ich auf dem Markt. Ich kaufte ein Kilo Aprikosen.
"Was für eine schöne russische Frau!", sagte der Verkäufer.
"Die schöne russische Frau ist eine schöne deutsche Frau.", antwortete ich.
Nicht, dass ich auf den Unterschied wertgelegt hätte. Aber bei dem nächsten Kilo Pfirsiche hätten sie es sowieso bemerkt. Außerdem wollte ich kein Kompliment, dass ich nicht verdiente, und damit meine ich nicht das über die Schönheit.
Das Wort 'schön' wird auf dem Markt inflationär gebraucht, was Frauen und Obst angeht. Eine Frau, die nicht mit 'Schönheit' angesprochen wird sollte heimgehen und bitterlich weinen - sofern ihr ihre Weiblichkeit am Herzen liegt.

Ein beliebter Trick, Unsicherheit zu überspielen, ist das Nuscheln. Natürlich glaubt heute keiner mehr, der die Schule einmal verlassen hat, daran, dass es etwas nutzt. Es ist zu etabliert. Dadurch, dass man die Antwort auf die Frage des Lehrers so uneindeutig wie möglich artikuliert, nutzt man das gesamte mögliche Klangspektrum aus und hofft, der Lehrer möge die richtige Antwort verstehen. Zugegeben, in der Schule mag das im Zusammenspiel mit den Erwartungen des Lehrers an den Schüler manchmal sogar klappen, abseits von falschen und richtigen Antworten funktioniert es aber nie.
Ich weiß, dass die Marktfrau meinen Wunsch nicht erraten kann, aber ein jedes "Woher kommst du, Töchterchen?" lässt mich noch tiefer in den Klangsumpf gleiten.
Das bringt mich zur nächsten Schwierigkeit. Wer einen "Salat" statt einem "Salätchen" bestellt ist offensichtlich kein Russe. Die Verniedlichungsformen des Russischen nehmen derart irre Züge an, dass ich sie nicht einmal übersetzen kann. Verniedlichungen, Verkleinerungen von Adverben, Verkleinerungen von Verkleinerungen.

Meine Oma sagt: "Mein Mann und ich, wir haben uns überlegt, dass du russische Verwandte haben musst. Du sprichst fast ohne Akzent."
Ein nettes Kompliment, aber leider ist sie auf einem Ohr praktisch taub.
Ein andermal sagt sie: "Wenn du überzeugter sprechen würdest, würde man dich besser verstehen."
Und damit hat sie, trotz schlechter Ohren, den Nagel auf den Kopf getroffen. Eigentlich ist es auch gar nicht schlimm, erkannt zu werden. Sie finden Deutsche ganz prima. Die Männer wollen einen heiraten und im Allgemeinen findet man den Akzent hübsch.
Also warum in aller Welt kann ich meinen Akzent nicht aufrecht umhertragen und kokett in die Ohren der russischen Männer hauchen?
Weil es schön wäre, einfach mal nicht aufzufallen, sondern im "Geben Sie mir bitte ein Kilo Kirschen."-Chor der anderen Käufer unterzugehen.

24
Mai
2007

Abgeblieben

...bin ich manchmal im Alltag, der keiner Beschreibung wert war, manchmal um einen PC bettelnd, manchmal an twodays Willkür scheiternd, die mich einfach nicht mehr reinlassen wollten.
Der schönste Ort, an dem ich abbleiben durfte, der hieß aber Sochi, ist warm und grün und freundlich und bewirbt sich um die Winterspiele 2014.
Sochi liegt am Schwarzen Meer, neben der ehemaligen Stalinresidenz, neben der aktuellen Putinresidenz, Sochi ist das russische Nizza, reich, touristisch, verwöhnt, ein bisschen dekadent.
Sochi liegt außerdem wenige Kilometer von der georgischen bzw. abchasischen Grenze. Abchasien ist eines der gemischtbevölkerten (georgisch und abchasich) Gebiete der ehemaligen Sowjetrepubliken die festgekrallt, verflucht, umkämpft, zugestanden und aberkannt werden.
Trotzdem wirkt Sochi heiter und leicht, gar nicht wie ein Mauerschauer auf die zahlreichen Konflikte der Kaukasusregion, während Armenier gegen Aserbaidschaner, Abchasier gegen Georgier, Osseten gegen Georgier, Tschetschenen gegen Russen kämpften (und es war nie so einfach), entspannten die Moskauer Metallurgen Pensionäre sich wohl in dem eigens für sie in die Kaukasushügel geklopften Sanatorium, nicht wissend, dass sie den Rohstoff für die Waffen hergestellt hatten, mit denen wenige hundert Kilometer entfernt Krieg geführt wurde.
Und dachten vielleicht: wie kann man sich nur bei einem solchen Wetter schlagen! Zwischen Meer und Bergen und fruchtbarer Erde!
Vermutlich hat das noch nie jemanden abgehalten.

Das moderne Sochi will anders sein.
Die Sanatorien versinken in wucherndem Grün, die Hotelklöpse machen es sich auf der fruchtbaren Erde gemütlich und spiegeln sich gegenseitig eitel in den großzügigen Glasfassaden. Die Leninstraße (die es in jeder russischen Stadt gibt), die Hauptstraße am Meer entlang, ist gesäumt von Plakaten und Leinwänden "Olympia 2014, Gemeinsam werden wir siegen!". Der Baumarkt wirbt mit "Lasst uns gemeinsam Olympia bauen!". In den Bergen streicht man die Lifte und baggert Wege durch den Wald. Sochi klopft und hämmert und streicht und putzt.
Sochi scheint nur einen gemeinsamen Willen zu haben: die Winterspiele.
Was nichts damit zu tun hat, bleibt dagegen liegen. Die Strände ziert ein sozialistischer Stahlbetonschick (s.Fotos), etwas angegraut und eben auf dem Weg der Ruinenwerdung begriffen. Wer hat sich nur einmal gedacht: das ist sie, die beste Idee einen Strand zu gestalten, Stahl und Beton und japsendes Wasser, welch ein Dreiklang!
Der Strand hat aber in den Planungsbüros der Winterspiele natürlich nichts verloren, und so bleibt er dreckig und betongesäumt und nicht mehr als eine hübsche Allegorie für die langsame und stetige Rache der Natur an den brutalen Fremdkörpern, die sie unterwerfen sollten.

30
Mrz
2007

Übrigens...

...missfiel dem Buchhalter das Nilpferd. Sie kauft ihm jetzt ein anderes. Hoffentlich ohne mich.

24
Mrz
2007

Völkerfreundschaft

Wir fliegen ins westliche Sibirien, in das durch Ölvorkommen zur drittreichsten Stadt Russlands gewordene Surgut. Dörfliches Russland finde ich auch hier nicht. Und, sagt Pasch, nicht einmal richtiges Sibirien.
Aber wir sind eingeladen. Die Stadt ist reich genug, um Imagepflege zu betreiben und die deutsch-russische Freundschaft zu fördern. Vielleicht im Namen des Öls, denn als wir ankommen, ist Gazprom auch schon hier.
Öffentlich klingt das natürlich anders: es ist einfach eine so große Freundschaft zwischen... ja, zwischen wem eigentlich? Zwischen Russland und Deutschland? Surgut und Berlin? Gazprom und dem europäischen Energiemarkt? Und was habe ich damit zu tun? Und bin ich eigentlich paranoid?

Surgut scheint uns jedenfalls so schrecklich vermisst zu haben, dass keine Kosten gescheut werden. Wir leben und speisen im Hotel und sie präsentiert uns ein ausgesuchtes Programm. Weichen wir zehn Meter von dem Reisebus, beginnt sie zu heulen.
Schon gut, meine Liebe, ich bin ja jetzt hier, tätschle ich sie.

Stolze Menschen zeigen uns die sozialen Einrichtungen, eine Ölförderanlage, das nagelneue Stadtmuseum, die moderne Universität und wie gut man mit den Naturvölkern, Hanten und Manzen, umgeht.
"Jedenfalls besser als die Amerikaner.", sagen die Studentinnen, die uns begleiten.
Man scheint auf alles stolz zu sein, nicht zuletzt auf uns. Das Regionalfernsehen zeigt uns täglich.
Stimme:
Die Deutschen bei den Hanten. Die deutschen Jugendlichen stolpern durch vier Meter Schnee. Zoom auf deutsche Hand, die ein Rentier streichelt.
Die Deutschen im Kinderheim. Zoom auf die strahlende Mascha, die einer deutschen Freiwilligen eine selbstgemacht Puppe überreicht.
Die Deutschen auf dem Ölfeld. Einstellung auf die in die Höhe Richtung Bohrturm gerichteten deutschen Augenpaare.

Am Flughafen bricht Surgut in bittere Tränen aus. Verzweifelt versuche ich sie zu trösten. Städte scheinen furchtbar sensible Wesen zu sein und diese Freundschaft wirklich schrecklich bedeutend und tief. So tief, dass man an ihrem Ende vielleicht sogar Erdöl findet.

Tatsächlich...

Sommerkleid-im-einundzwanzigsten-Stockwerk

...habe ich es nun endlich geschafft, ein paar Bilder hochzuladen. Achja, wir haben hier übrigens Frühling. Und zwar einen, der mich -was man nicht sieht - im Sommerkleid im - was man sehr gut sieht - 21. Stockwerk sitzen lässt. Nach dem ungewöhnlichen Winter nun also auch ein ungewöhnlicher Frühling. Mir macht die Klimaerwärmung richtig Spaß.

21
Feb
2007

Kein Haustier, sondern ein russischer Mann

Pjotr* lerne ich bei Inna Nikolaevna kennen. Sie nennt ihn liebevoll Pascha, was mich an eine Siamkatze erinnert. Ihre ist schon viele Jahre tot. Pjotr ist allerdings kein Haustier, sondern ihr Neffe, der ihr heute Kartoffeln vorbeibringt.
Sbasibo, Pasha.
Ne za chto. U nas mnogie est'.

Danke, Pascha.
Nichts zu danken. Wir haben ne Menge davon.

So lerne ich also Pjotr kennen. Inna Nikolaevna nötigt mich, meinen wöchentlichen Teil aus Dostojevskijs "Weißen Nächten" vorzulesen. Er findet ich lese gut, verständlich. Dazwischen liegen für mich Welten, aber ich finde es höflich und anständig von ihm, mich anzulügen.
Pjotr ist 24, studierte Geologie, interessiert sich für Fotografie und arbeitet jetzt bei -ein oooh aaah klingt aus den Reihen der westlichen Zuhörer- Gazprom. Wie unser guter Schröder.

"Ich habe gelesen," sagt Pjotr "dass Schröder in Deutschland dafür kritisiert wird."
"Enge Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft machen die Menschen misstrauisch", erkläre ich. Jedenfalls bei uns, denke ich.

Dann schauen wir fern, Politiker, Oligarchen. Wer Jude ist, wissen Tante und Neffe genau.
Der da, na klar. Auch Jude. Phhh.
Kopfschütteln.
Da ich eine gewöhnliche deutsche Schule durchlaufen habe, bin ich auf diese Worte geradezu mit Schüttelfrost konditioniert.
Ich finde ihn jetzt nicht mehr höflich und anständig, aber interessant. Jung, jovial, judenfeindlich. Oder so.

Ich spreche ihn darauf an, als wir zur Metro laufen.
"Ach", er lacht, unangenehm berührt, "es ist einfach so: die Russen mögen die Juden nicht." Ach. Ach, hat er gesagt.
"Das war bei uns auch so vor einigen Jahren..."
"Das war dann doch in einem anderen Maßstab.", sagt er, immer noch lachend.
Ich hab es noch häufiger versucht. Er spricht darüber nicht.

So fing das an mit Pjotr. Mittlerweile mag ich ihn sehr gerne. Er zeigt mir seine (wirklich beeindruckenden) Fotografien und verbessert meine Sprachfehler. Er verabscheut Amerikaner, Juden (was ja dasselbe ist), Gastarbeiter und takie glupie, am besten zu übersetzen mit "dummen Zeitgenossen". Er hat mich früh gefragt, ob ich kochen kann. Er hält mir die Tür auf, bezahlt (Dates gesponsert von Gazprom!) und sitzt breitbeinig. Vermutlich habe ich noch keinen so gestenreich männlichen Mann kennengelernt. Ich werde ihn mal fragen, ob er nicht die Beine in der Metro übereinanderschlagen kann, das spart Platz. Und dann werde ich ihm gestehen, dass ich Jüdin bin.
Für den Fall, dass ihr also nichts mehr von mir hört-

*Ja wer ist es nun?

14
Feb
2007

Odysee im Namen des Nilpferdes

Es ist Dienstag und ich besuche Ailzu Mohammedovna. Das Wetter ist garstig, stürmt und schneit und ich bin zu früh, weil ich durch den Matsch in die Wärme stürze.
Leider wird mir die Wärme häuslicher Gemütlichkeit nicht allzu lange zuteil, Ailzu Mohammedovna möchte ausgehen, also poshli.
Wir stapfen vorbei an der Bank. Heute also keine Überweisungen für Versandhäuser. Und vorbei an der Post. Heute also auch keine angekommenen Saftpressen, tigergemusterte Schals aus dem Kosmetikversand oder kostenlose Geschenkanhänger bei 30-jähriger Klubmitgliedschaft.
Ich ahne, dass wir uns auf dem Weg zur Erfüllung eines ganz besonderen Auftrages befinden. Wir suchen ein begemot, ein Nilpferd. Oder vielmehr die steinerne oder bronzene Figur eines Nilpferdes. Denn ihr Sohn, erklärt sie, hat in vier Tagen Geburtstag und sammelt begemoty. Der Hauptbuchhalter einer Bank sammelt privat Nilpferde. Auch gut.
Sie erinnert sich, vage, daran, dass es da einen kleinen Laden in einem großen Handelszentrum neben einer Metrostation gab. Also suchen wir. In den kleinsten Zellen der Metro-Kleinkram-Verkäufer.
Und sie immer:
"Guten Tag, Verehrteste/r, haben Sie Nilpferde? Nur Nashörner, Hunde... also. wissen Sie, mein Sohn hat bald Geburtstag, und er interessiert sich sehr für Nilpferde. Überhaupt wenige... ja. Kaum zu finden. Ich bin Invalide erster Klasse, ich kam extra hierher, um ein Nilpferd zu finden. Jaja, der Kopf, der Kopf, überhaupt, schlecht, schlecht... ich bin ehemalige Volkskünstlerin, wissen sie, und nun, Invalide erster Klasse, kann überhaupt nur mit dieser Devushka (das bin ich) ausgehen... mein Sohn arbeitet in einer Bank, ständig fort, im Ausland... Sie haben also keine Nilpferde? Hatten nie? Schade. Gut. Gehen wir. Haben Sie riesigen Dank. Ich wünsche Ihnen Erfolg. Und Glück. Gott gebe Ihnen alles erdenklich Gute!"
Und Ruhe und Kraft und Besinnlichkeit und viele Kinder.
Es mag vielleicht so erscheinen, als nähme ich meine Arbeit nicht mit der benötigten gewissen Portion Geduld und Lockerheit. Die Verkäufer, die Verehrtesten, übrigens auch nicht. Die anfängliche Höflichkeit gegenüber eines Kunden wandelt sich in eine Höflichkeit gegenüber der altersbedingten Eigenheiten und dann langsam in erstarrte Schweigsamkeit. Ich stehe jedes Mal daneben und warte, bis die Verkäufer anfangen, auffällig oft zu blinzeln. Dann sehen Sie mich an und versuchen mich in das Gespräch einzuklinken. Wir haben keine Nilpferde, und jetzt nehmen Sie sie bitte wieder mit, ja? Ich denke gar nicht daran. Meine Geduld ist jetzt grenzenlos. Vor allem im Inneren eines Ladens tippe ich mit meinen auftauenden Fingern geradezu den Takt zu ihrem Monolog an die Wand. Im Übrigen habe ich keine Lust zu gestehen, dass ich keine Russin bin. Also schweige ich.

Wir finden dann ein Nilpferd. In Form eines Buchhalters für den Buchhalter -haha- für umgerechnete 300€. Und dann zweifle ich. An meiner Aufgabe. An dem Sinn. An mir. Ich habe mich nicht zu einem FSJ in Moskau entschlossen, um geschlagene fünf Stunden mit der verwöhnten Mutter eines hohen Bankbuchhalters nach einer unverschämt teuren Nilpferdfigur zu suchen, für die sie dann ohne mit der Wimper zu zucken das grobe Gehalt eines Metroführerassistenten hinblättert. Ich ärgere mich.
Andererseits: ich mache sie offensichtlich glücklich. Auch wenn es nur darum geht, körbeweise Versandhausblödsinn abzuholen. Den Glaskronleuchter abzustauben. Oder mir einfach zu erzählen, wie oft sie in Amerika war. Vielleicht, denke ich, wird man so erst, wenn man einsam ist.

7
Feb
2007

Poshla Zima

Endlich kam er, der russische Winter. Der die Charakter formt, die Nerven stählern macht und tiefe Leidensfalten in die Haut kerbt.
"Daneshka", warnten sie mich. "wenn der russische Winter kommt werden deine deutschen Kleider nicht genügen."
Da sich aber weder Pelzmäntel noch Daunenjacken mit meinem Kleidungsgeschmack vertragen sah ich ihm sorgenvoll entgegen, dem gefürchteten russischen Winter. Er ließ dann aber lange auf sich warten, scharwenzelte um die Null Grad herum, experimentierte mit einer Handvoll Schneeflocken zu Weihnachten und übte sich in allgemeiner Bescheidenheit. Unruhig wurden sie da, die Russen. Gespräche über das Wetter verloren ihren Smalltalk-Charakter und ihren Treppenhaus-Charme, Russland ohne Winter, das ist ein Skandal. Denn der Winter in Russland, das ist nicht einfach eine Jahreszeit. Schon gar nicht dieselbe wie in allen anderen Ländern. Nur verwunderlich, dass die russische Sprache keine eigene Bezeichnung für den kältesten und härtesten Teil ihres Winters kennt. Der russische Winter - das ist praktisch die Bedingung für das, was man russischen Charakter nennt.
Und dann kam er, endlich.
"Phhhh Europäerin*...", pfeift er und dringt durch die Kuppen meiner 2-€-schwedisches-Bekleidungshaus-Handschuhe. Erlköniggleich lockt er und singt er, kriecht durch Schal und Mütze und liebkost mich mit eisigen Fingern.
"Phhhh zu spät", denke ich. "Eine Schwäbin* kauft sich nicht noch im Februar Winterkleider."

Zwischen Gestern und Morgen soll es einen Temperatursturz von 20 Grad geben. Gerade sind es um die -15, morgen werden es noch zehn weniger. Sagen sie. Die Klimawandelbeiträge verschwinden aus den Zeitungen, im Treppenhaus fürchtet man sich wieder anständig vor der nächsten Kältewelle und mich fragt man, immer etwas stolz: "Ne zamorzla? Bist du nicht erfroren?"
Für die Russen jedenfalls ist die Natur jetzt erstmal wieder in Ordnung.


*Die weiblichen Formen sind bewusst anstelle der klassischen männlichen Bezeichnungen eingesetzt um der Emanziaption der Frau auch in der Schrift zu Normalität zu verhelfen.
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